Eine kanadische Langzeittudie soll Klarheit schaffen. Dabei handelt es sich um die weltweit größte systematische Untersuchung zum Thema MS und Knochenmarktransplantation. Leider sind die freizugänglichen Veröffentlichungen darüber unsystematisch bis chaotisch. Ich beschränke mich daher auf einen kurzen chronologischen Überblick mit den wichtigsten Infos und weiterführenden Links:
Oktober 2000 begann die Vorbereitung der Studie an der University of Ottawa unter Leitung von Dr. Mark Freedman und Dr. Harold Atkins. Das ambitionierte Projekt wurde von der Multiple Sclerosis Scientific Research Foundation in Zusammenarbeit mit der kanadischen MS-Gesellschaft initiiert. Hauptziel ist es, definitiv zu klären, ob Multiple Sklerose durch eine hämatopoetische Stammzelltransplantation gestoppt werden kann [1].
Insgesamt nehmen 32 Patienten mit frühen, aggressiven Formen der MS an der Studie teil, davon acht als Kontrollgruppe – sie verzichten also auf eine Transplantation. Nach Abschluss der Planungs- und Rekrutierungsphase folgten die ersten Transplantationen.
April 2003 mussten die Behandlungen jedoch gestoppt werden. Ein Patient war durch die Begleitmedikation an Leberversagen gestorben.
März 2004 war das Studienprotokoll soweit verbessert, dass eine Fortführung der Studie vertretbar erschien. Die Transplantationen konnten fortgesetzt werden.
Januar 2005 waren 11 Patienten transplantiert. Der Beobachtungszeitraum betrug zwischen drei bis 39 Monate. Bei den ersten sechs transplantierten Patienten ließ sich mittlerweile eine klinische Beruhigung der Symptomatik beobachten. Bei drei der am frühesten behandelten Probanden deutete sich auch eine Stabilisierung der Erkrankung selbst in den MRT-Resultaten an; Bone Marrow Transplantation Study Update.
Juli 2007 stellte die kanadisch MS-Gesellschaft weitere Mittel zur Fortsetzung der Studie zur Verfügung; MS Society announces $2.4 million to continue Ottawa bone marrow stem cell transplant trial.
Oktober 2007 präsentierte Dr. Freedman dann auf der ECTRIMS in Prag einen optimistischen Zwischenbericht. Mittlerweile waren 15 Studienteilnehmer transplantiert. Keiner der Patienten hatte nach der Behandlung Schübe oder neue Anzeichen von Krankheitsaktivität im MRT. Drei Patienten mir geringem Behinderungsgrad zeigten sogar leichte Verbesserungen ihrer körperlichen Einschränkungen. Allerdings litten vier Personen mit hohem Behinderungsgrad trotz ihres „neuen“ Immunsystems unter einer leichten Krankheitsprogression. Diese Beobachtung machten auch andere Wissenschaftler [2].
Mai 2008, jetzt sind wir in der Gegenwart angekommen, nun sind 17 Patienten transplantiert. Reuters-Canada meldet: Bone marrow treatments restore nerves, expert says / Hoffnung für MS-Patienten. Auf einem Stammzellforscher-Seminar am U.S. National Institutes of Health spekulierte Freedman darüber, dass eine rechtzeitige Stammzelltransplantation nicht bloß den Stop der Krankheitsprogression bewirkt, sondern auch eine allmähliche Remyelinisierung der geschädigten Axone auslösen könnte. Es besteht offensichtlich weiterer Forschungsbedarf.
Im zweiten Teil der Langzeitstudie wird sich zeigen, ob der Zustand der Probanden tatsächlich weiter stabil bleibt oder sich gar noch deutlich verbessert. Was das für die Ätiologie und Pathogenese (Ursache und Entwicklung) der Erkrankung bedeutet, bleibt noch zu diskutieren. Die regenerative Wirkung der Stammzellen halte ich in diesem Zusammenhang allerdings für überschätzt. Vermutlich sind ganz einfach die körpereigenen Reparaturmechanismen mal ohne immunologische Störungen am Werk. Eventuell gelingt es den Stammzellen sogar, die Produktion von Zytokinen – und damit mittelbar die adulte Neurogenese zu stimulieren.
[1] Theoretische Überlegungen, präklinische Tiermodelle und Einzelfallberichte über Patienten mit malignen Erkrankungen und koinzidenter Autoimmunerkrankung unterstützen das Konzept, dass der natürliche Verlauf schwerer Autoimmunerkrankungen durch intensive Immunablation und Stammzelltransplantation beeinflusst werden kann.
[2] Blanco et al. haben 2005 ein Review über insgesamt 250 dokumentierte hämatopoetische Stammzelltransplantationen im Lancet Neurological veröffentlicht. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Patienten mit hohem Behinderungsgrad nicht von der Transplantation profitieren konnten. Noch ernüchternder sind die 2007 in der Zeitschrift Brain veröffentlichten Befunde. Das Nervengewebe von fünf verstorbenen Transplantationsempfängern wies trotz ausgeprägter Immunsuppression weiterhin eindeutige Indizien für ein Fortschreiten der Demyelinisierung und axonalen Degeneration auf; (Autologous Haematopoietic Stem Cell Transplantation Fails to Stop Demyelination and Neurodegeneration in Multiple Sclerosis).
Gibt es hierzu Neuigkeiten? Uebrigens: Ich schaetze Ihren Blog sehr. Guter Ton und die noetige Vehemenz. Weiter so! 🙂
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